– Bisherige Preisträger

2023: Maja Figge

Die Jury des Karsten-Witte-Preises (Marion Biet, Theodor Frisorger und Marcus Stiglegger) vergibt die Auszeichnung für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz 2023 an Maja Figge. Geehrt wird ihr Text „Verstricken als Methode. Eine Skizze zur komplexen Untersuchung von Differenz/en im Film“, der 2022 im Onlinemagazin nach dem Film erschienen ist.

Figges Text entspringt ihrem Forschungsprojekt zur Verflechtungsgeschichte des westeuropäischen und indischem Kinos nach der indischen Unabhängigkeit. Entgegen einer Einfluss-Geschichte westlicher Film-Wellen auf Filmkulturen des Globalen Südens steht bei Figge die Provinzialisierung der eurozentrischen Geschichtsschreibung und Theoriebildung zum modernen Film auf dem Spiel. Und die entsprechenden Spielregeln skizziert ihr ausgezeichneter Text „Vestricken als Methode“, insofern er methodologische Problemstellungen am Kreuzungspunkt von kritischer Filmhistoriografie und postkolonialer Theorie bearbeitet.

Figge fragt, wie sich den komplexen, asymmetrischen Machtverhältnissen in transnationalen Dokumentarfilmen analytisch gerecht werden lässt. Verheddern sich diese Filmpraktiken zwangsläufig auch in der kolonialen Genealogie des ethnografischen Reisefilms, dann interessiert Figge, wie sich dieses Verstricken methodisch fruchtbar machen lässt. Hierfür macht sie den Begriff des Entanglements stark, den sie sorgsam – insbesondere über die Schriften von Rey Chow – herleitet, und das Konzept entsprechend für das europäischen Filmschaffen in Indien adaptiert. In einer Lektüre zweier Szenen – aus Louis Malles L’INDE FANTÔME: RÉFLEXIONS SUR UN VOYAGE und aus S. Sukhdevs INDIA 67 – demonstriert Figge eine filmanalytische Praxis, die Aspekte wie vergeschlechtlichte und rassifizierte Körper, spezifische Kameratechnologien und Dokumentarfilmpraktiken sowohl einzeln betrachtet, als auch in ihrem assemblierten Zusammenwirken im Hinblick auf darin wirksame Machtverhältnisse. Das Nebeneinander dieser beiden Szene ermöglicht Figge ferner die Verflechtung und geteilten Geschichten Malles und S. Sukhdevs Filme herauszuarbeiten, aber auch gleichzeitig deren Verschiedenheit und eigene Situierung zu betonen. Hierbei unterstreicht Figge einen Entanglement-Begriff, der sich weniger durch Ähnlichkeit als durch Differenz auszeichnet; denn die Verbindungen dieser beiden Filme sei in erster Linie gekennzeichnet durch Nicht-Beziehung. Im Zentrum der verstrickten Schlaufen und Maschen bleibt eine Lücke, die die jeweiligen geopolitischen und epistemischen Verhältnisse zum Ausdruck bringt.

Figges Text ist ein einnehmendes Plädoyer dafür, komplexe Machtverhältnisse analytisch nicht einfach über eine schlichte Konstatierung von postkolonialen Entanglements abzuwickeln, sondern sich in verstrickte und verzwickte Auseinandersetzungen mit ihnen zu begeben. Und genau das tut Figges Text in eindrücklicher Kombination aus konzeptionellen Überlegungen und materialnahen und filmhistorisch versierten Analysen. Diesen dringenden Vorschlag, „Verstricken als Methode“ zu begreifen, möchte die Jury mit dem Karsten-Witte-Preis würdigen.

Marion Biet – Theodor Frisorger – Marcus Stiglegger

 

2022: Theodor Frisorger

Die Jury der AG Filmwissenschaft vergibt den Karsten-Witte-Preis 2022 an Theodor Frisorger für seinen Beitrag zum Thema „Film Extras: The Chicks of Cleopatra im Playboy“ in der Fachzeitschrift „Frauen und Film“.

Der Jury erscheint dieser Beitrag beispielhaft geeignet, die Ziele des Preises zu vertreten: Er sorgt für eine positive Außendarstellung und Vermittlung filmwissenschaftlicher Arbeit, ist in seinem Ansatz und seiner Gestaltung vorbildhaft für Studierende und fördert innerhalb der Filmwissenschaft den Gemeinschaftssinn und die wechselseitige wissenschaftliche Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum.

Frisorger wirft durch seinen Fokus auf eine marginalisierte Gruppe Filmschaffender einen originellen und ungewohnten Blick auf ein vernachlässigtes Phänomen der Filmgeschichte: Die damals so genannten „Extras“, zu Deutsch „Statisten“, die heute als „Background Actors“ bezeichnet werden. Der Text vermittelt die schwierige ökonomische Situation dieses „Filmprekariats“ des klassischen Studiosystems – Menschen, die sich von diesem System ausbeuten ließen in der Hoffnung, eines Tages selbst zum Star zu werden. Am Beispiel der Produktion des Monumentalfilms Cleopatra (1963) illustriert Frisorger eine Doppeldeutigkeit des Begriffes „Extra“. Denn nicht nur die Nebenrollen sind hier gemeint, sondern auch die Begleitmaterialien der Filmproduktion, häufig ebenfalls „Extras“ genannt, konkret ein Drehbericht im damaligen Playboy, der die „Extra-special Extras“ des Films vorstellte und so zur Werbung des Films beitrug.

Der Text kombiniert Filmproduktionsforschung und einen feministischen Ansatz auf einleuchtende und erhellende Weise. Stilistisch findet der Autor einen vielseitigen Zugang, indem er zugleich beschreibend, reflektierend und analytisch vorgeht. Die „Extras“ werden im Drehbericht als Teil der weißen, heterosexuellen „Konsumkultur“ behandelt, was Aufschluss über die gesellschaftlichen Normen der frühen 1960er Jahre in den USA gibt und nicht zuletzt durch Frisorgers ausgewogene Analyse des Publikationskontexts gelingt.

Die Jury lobt ausdrücklich die gelungene Fusion aus einem eingängigen Stil, komplexer analytischer Methodik und überzeugender Fokussierung, mit der Theodor Frisorger eine erfrischende Neuperspektivierung der Hollywood-Geschichtsschreibung vornimmt.

Heike Klippel – Fabian Schmidt – Marcus Stiglegger

 

2021: Fabian Schmidt

Die Jury des Karsten-Witte-Preises (Heike Klippel, Franziska Wagner, Anke Zechner) vergibt die Auszeichnung für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz 2021 an Fabian Schmidt für „The Westerbork Film Revisited – Provenance, the Re-Use of Archive Material and Holocaust Remembrances“, erschienen im Historical Journal of Film, Radio and Television, Vol. 40, Nr. 4, 2020, S. 702-731.

Der Aufsatz leistet eine kritische Auseinandersetzung mit den als Westerbork-Film bekannten Aufnahmen, die im Holocaust-Durchgangslager Westerbork in Holland gemacht wurden. In vielfältige filmische Kontexte aufgenommen und im Laufe der Geschichte unterschiedlich interpretiert, zählen sie zu den bekanntesten dokumentarischen Repräsentationen des Holocaust. Dabei wurde in der Regel implizit vorausgesetzt, um welchen Materialkorpus es sich handelt und was er zeigt. Die große Leistung des Beitrags von Fabian Schmidt besteht darin, all dies zu hinterfragen und durch eine sorgfältige Archiv-Recherche und Analyse herauszuarbeiten, dass dieses – und dokumentarisches Filmmaterial allgemein – unabwendbar der Verkennung unterliegt, sobald es als Beleg eingesetzt wird. Damit wird einerseits ein neues Licht auf den vermeintlich bekannten Westerbork-Film geworfen und zugleich der Evidenz-Eindruck von Filmdokumenten als historisch-theoretisch unangemessen herausgestellt: „These pictures never proved anything. By attributing the burden of proof to these images and films, the Holocaust remembrances make themselves vulnerable to denial and doubt.“ (S. 725)

Schmidt arbeitet heraus, worin das Westerbork-Material besteht, wer – soweit es sich rekonstruieren lässt – die gezeigten Personen sind, welche Situationen dargestellt werden und wie stark sie selektiert sind; außerdem entwickelt er aus der Untersuchung der verschiedenen Sequenzen heraus begründete Hypothesen über die Entstehung der Aufnahmen. Dies wird erkenntnisreich mit Abbildungen, Grafiken, Archivnachweisen und Argumentationen belegt. Der Autor schält sozusagen den Westerbork-Film aus seinen verschieden montierten/gekürzten Versionen und aus den Verwendungen in anderen Filmen heraus, ohne jedoch eine Argumentation der ‚Eigentlichkeit‘ zu verfolgen. Es wird vielmehr gezeigt, welche Schwerpunktsetzungen bezüglich des Holocaust historisch wechselten und inwiefern die Verwendung des Westerbork-Materials deren Narrative unterstützte. Dabei geht es Schmidt nicht um ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern darum, ein Verständnis für Geschichte und den Umgang mit Filmdokumenten zu schaffen. Es werden Hypothesen entwickelt und Kontexte aufgezeigt, die kritisch geprüft werden, so dass Schmidts Aufsatz auf vorbildliche Weise für eine historisch-kritische Filmwissenschaft einsteht.

Eines der hervorstechendsten Charakteristika des Westerbork-Films ist, dass er keine Gräuel, sondern vor allem gut organisierte, glatte Abläufe zeigt, insbesondere bei der Abfahrt eines Gefangenen-Transports. Schmidts hervorragende Analyse und Durchdringung des Materials deckt auf, in welchem Ausmaß der Westerbork-Film daran arbeitet, den Schrecken des Holocausts zu verleugnen und wie sehr er propagandistisch ausgerichtet ist, ohne dass dies direkt wahrnehmbar wäre. Dabei erläutert er die entsprechenden Zusammenhänge und Hintergründe und deckt zugleich die Grausamkeit auf, wenn er auf die Güterwagen verweist, die bereits verschlossen und voller Menschen sind, die nicht mehr zu sehen sind. Besonders eindrucksvoll interpretiert er die Aufnahme eines Mädchens, das aus einem der Wagen herausschaut und die unter anderem deshalb berühmt wurde, weil sie von Alain Resnais in Nuit et bruillard verwendet wurde: Neben der Frage der Identität des Mädchens stellt sich auch die nach der Identität derjenigen, die die Kamera führten. Letztere ist nicht endgültig aufklärbar, aber Schmidt nimmt nicht nur empathisch im Blick des Mädchens wahr, dass es in den Personen vor dem Zug seine Peiniger erkennt. Gerade dieses Bild, das zwar als „Jewish Girl“ um die Welt ging, aber eigentlich die Sinti Settela abbildet, zeigt auf, wie sehr die Bilder des Westerbork-Films zunächst einfach als Material genutzt wurden, ohne ihn filmwissenschaftlich und historisch zu analysieren.

Ein Versäumnis, das Schmidt mit seinem Aufsatz in überzeugender Weise nachholt. 

 

Lobende Erwähnung: Anna Luise Kiss

Erwähnen möchten wir außerdem Anna Luise Kiss mit ihrem Blog-Eintrag „Podcasts als Open-Science-Instrument“ und insbesondere den damit verbundenen Podcast „Film Studies bling-bling“, mit dem sie einen wichtigen und innovativen Beitrag für die deutschsprachige Filmwissenschaft liefert. In ihrem zweigeteilten Text denkt Kiss über die wissenschaftlichen Möglichkeiten von Podcasts nach und liefert in Teil 2 ein nützliches How-To für die Erstellung von ebensolchen. Ihr eigener Podcast informiert zudem auf niedrigschwellige, kluge und unterhaltsame Art über aktuelle Themen, die die deutsche Medien- und Filmwissenschaft betreffen. Dieses Format liegt zwar außerhalb der Kategorie eines wissenschaftlichen Textes, Kiss’ Ansatz erscheint uns aber sehr produktiv, weshalb wir ihn lobend erwähnen möchten.  

Film Studies bling-bling

 

2020: Franziska Wagner

Die Jury des Karsten-Witte-Preises (Anke Zechner, Winfried Pauleit und Rasmus Greiner) hat die Auszeichnung für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz 2020 an Franziska Wagner vergeben. Ausgezeichnet wurde ihr Text „Zum Greifen nah? Annäherungen an das Verhältnis von Nähe und Distanz in VR-Filmen“, der 2019 in der Zeitschrift Montage AV erschienen ist.

Franziska Wagners Aufsatz widmet sich dem relativ neuen Format der VR-Filme. In zwei exemplarischen Analysen untersucht die Autorin die Rezeptionserfahrung zweier Werke: Glaube von Dany Levy 2017 und I, Philip von Pierre Zandrowicz 2016. Das technisch strukturierte Dispositiv der VR-Brillen erzeugt darin eine Filmerfahrung, die von spezifischen Nähe- und Distanzverhältnissen geprägt ist. Wagner schließt in ihrer filmphänomenologischen Untersuchung die Intensivierungen von orientierenden und desorientierenden Qualitäten der Wahrnehmung an hetero-normativitätskritische Diskurse an. Im Zentrum des Aufsatzes steht damit eine queere Lesart der körperlichen Erfahrung des Nähe- und Distanzverhältnisses in VR-Filmen.

Wagner erschließt mit ihrem Text den Ansatz der queeren Phänomenologie (Sara Ahmed) für die Filmwissenschaft, – und verbindet gleichzeitig die Filmwissenschaft mit einem interdisziplinären Diskursfeld. Dabei bleibt Wagner in ihrer Analyse der Filme einerseits sehr dicht und prägnant an den Erkundungen der Filmwahrnehmung. Andererseits gelingt ihr eine überzeugende Verbindung von Filmphänomenologie und Queer Theory.

Der flüssig geschriebene Artikel eignet sich mit seiner begrifflich trennscharfen und stets nachvollziehbaren Argumentation als wichtige Grundlage für weitere Untersuchungen einer neuartigen Form des Films, die sowohl auf soziologischer als auch (film)theoretischer Ebene ein Umdenken und Anpassen bisheriger Ansätze erfordert. Franziska Wagner setzt mit ihrem Text einen wichtigen Impuls, der auf vorbildliche Weise demonstriert, dass sich wissenschaftlicher Anspruch, kluge Überlegungen und Lesbarkeit nicht gegenseitig ausschließen.

Darüber hinaus wurden noch zwei loebende Erwähnungen ausgesprochen:

Tobias Dietrich gelingt es in seinem Aufsatz „Depression as Aesthetic Answer to the Socioeconomic Crisis in Two Days, One Night“ (erschienen in Contemporary European Cinema, London 2019) aufbauend auf einer breiten interdisziplinären Theoriebasis, ein hochaktuelles Thema für die Filmwissenschaft zu erschließen und mit einer  Analyse von Zwei tage, eine Nacht (2014) der Brüder Dardennes greifbar zu machen.

Sebastian Köthe leistet mit seinem Artikel „Visibility and Torture: On the Appropriation of Secret Service CCTV in YOU DON’T LIKE THE TRUTH“ (erschienen in Research in Film & History, 2019) einen wichtigen Beitrag zur Erforschung neuartiger digitaler Formate des politischen Films, die das Material von Überwachungskameras reflektieren. Hierbei argumentiert er stets eng am audiovisuellen Material und trägt so selbst zur Sichtbarkeit des Diskurses bei.

Unser Dank gilt neben den Autor*innen auch den Sponsor*innen, die das Preisgeld in Höhe von 1000 Euro großzügig zur Verfügung stellten:

AVINUS e.V., Jeanpaul Goergen, Britta Hartmann, Gertrud Koch, Irmbert Schenk, Margrit Tröhler

 

2019: Elena Vogman

Die Jury des Karsten-Witte-Preises (Linda Waack, Winfried Pauleit und Johannes Binotto) hat die Auszeichnung für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz 2019 an Elena Vogman vergeben. Ausgezeichnet wurde ihr Text „Dance of Values: Reading Eisenstein’s Capital„, der 2018 in der Zeitschrift Grey Room erschienen ist.

Mit Sergei Eisenstein widmet sich Elena Vogmans Aufsatz (wie auch das angekündigte Buch, von dem dieser Text nach eigenen Worten „ein Fragment“ darstellt), einem Regisseur und Theoretiker des Films, der innerhalb der Filmwissenschaft zu den mit Abstand am häufigsten diskutierten gehört. Gleichwohl gelingt es ihr, diesen alten Bekannten noch einmal neu zu entdecken. Denn statt einem seiner Filme untersucht die Autorin jenes legendäre und unvollendet gebliebene Projekt Eisensteins: die filmische Adaption von Karl Marx’ „Das Kapital“. Im Zentrum des Aufsatzes steht daher keine Filmanalyse, sondern die Untersuchung der mehr als fünfhundert Seiten umfassenden Notizen eines Werks, das hier erstmals in diesem Ausmaß erschlossen wurde. Die historische Intention dieses Werkes war es, die Filmsprache zu revolutionieren und die fundamentale Frage neu zu beantworten, wie ästhetische Formen der Darstellung immer an politische Fragen der Repräsentation gekoppelt sind. In diesem durchaus auch tänzerischen und „wilden“ Streifzug durch die Notizen und insbesondere ausgehend von den Collagen aus Bildern, Zeitungsausrissen und (handschriftlichen) Kommentaren, entsteht in der Lektüre dieser in mehrfacher Hinsicht „losen“ Blätter ein „Protofilm“ – ein Prototyp nicht nur für diesen konkreten Film, den Eisenstein dann nie gemacht hat, sondern für die Möglichkeiten des Filmischen per se.

Für die Filmwissenschaft und über deren Gebiet hinaus ist dieser Aufsatz ebenso inspirierend, wie provozierend: Denn mit Eisensteins Kapital-Projekt erscheint im Herz von Filmgeschichte und -theorie ausgerechnet das, was noch nicht (oder nicht mehr) Film ist. Die Frage nach den transmedialen Auflösungserscheinungen dessen, was einmal Film genannt wurde, stellt sich damit nicht erst im Zuge der Digitalisierung, sondern treibt bereits Eisensteins Protofilm aus den 1920er Jahren an. Umgekehrt indes macht dieser Aufsatz klar, wie Film auch dort anzutreffen ist, wo es ihn noch nicht gab: Hatte Eisenstein den Anspruch, Marx’ theoretische Überlegungen nicht einfach zu illustrieren, sondern aus dessen Argumentation eine neue Filmform jenseits von Starkult und (von ihm mit-)etablierten Montageprinzipien zu entwickeln, so skizziert Vogman zugleich auch die Umkehrung und zeigt auf, inwiefern Marx’ tänzerische Dialektik und deren Begriffe, selber bereits proto-filmisch verfahren.

Obwohl sich dieser Aufsatz (anders etwa als Alexander Kluges filmische Annäherung an Eisensteins Projekt) nah an dem historischen Artefakt bewegt, erweist er sich damit gleichwohl als zeitgenössisch brisant und in hohem Masse anschlussfähig auch an aktuelle Diskussionen zur Fragen politisch-ästhetischer Repräsentation. “Die Krise der Demokratien lässt sich als eine Krise der Ausstellungsbedingungen des politischen Menschen verstehen.” – Diese Diagnose Walter Benjamins aus dem Jahr 1935, stellt Elena Vogman an den Beginn ihres Aufsatzes. Sie zeigt dezidiert, dass auch Eisensteins Suche nach einer neuen Filmsprache von dieser Hypothese informiert ist. Mit und durch Elena Vogman schriftliche Wiederaufführung eines Films, den es nie gab, liest sich diese Diagnose relevanter denn je.

2018: Johannes Binotto

Die diesjährige Jury des Karsten-Witte-Preises, bestehend aus Linda Waack, Kristina Köhler (der letztjährigen Preisträgerin) und Bernhard Groß, hatte in diesem Jahr aus 15 Einsendungen mit einem breiten Themenspektrum die PreisträgerInnen auszuwählen.
Die Kriterien der Auswahl waren, gemäß den Statuten des Karsten-Witte-Preises: Die Originalität und Aktualität des wissenschaftlichen Ansatzes und dessen Durchführung ebenso wie die sprachliche Souveränität.

Lobende Erwähnung

Wir haben uns auf dieser Grundlage zu einer lobenden Erwähnung für den Beitrag „Short Voyages to the Land of Gregarious Animals: On Political Aesthesia in Sto Lyko and Sweetgrass“ von Ulrich Meurer und Maria Oikonomou (MEURER OIKONOMOU Short Voyages pre-publish) entschlossen.

Der Beitrag von Meurer/Oikonomou lotet das Verhältnis von Fakt und Fiktion für die beiden im Titel genannten zeitgenössischen Dokumentarfilme „Sto Lyko“ und „Sweetgrass“ aus. Ziel ist es dabei, durch die Filme und ihre Reflexionsbewegungen hindurch, einsichtig zu machen, was es bedeutet, ästhetisch „das Volk herzustellen“, wie es mit Rekurs auf Rancìere (und implizit Deleuze) heißt. Dem Aufsatz gelingt es, in einer eindrucksvollen Sprache, die immer wieder neu ansetzt, Stück für Stück die Dimensionen des Politischen dieser Formel als unmittelbare Erfahrung der Filme zu entfalten. Mit diesem Beitrag möchten wir auch einen Text würdigen, der in Ko-Autorschaft entstanden ist.

Laudatio für den Preisträger Johannes Binotto:

In diesem Jahr hat sich die Jury entschieden Johannes Binottos Artikel „SCHUTZBAUTEN Matte paintings, glass shots und die Durchbrüche der Phantasie“ mit dem Karsten-Witte-Preis auszuzeichnen. Erschienen ist der Text in der Zeitschrift für Medienwissenschaft Nr. 17, 2/2017.

Wie in seiner aktuellen Forschung zum Mittel der Entstellung untersucht Johannes Binotto in dem Beitrag den Zusammenhang zwischen filmtechnischen Verfahren und psychoanalytischen Begriffen – ein Unterfangen, das hier, wie wir meinen, auf beispielhafte Weise gelingt. Und zwar, indem Binotto sowohl souverän durch psychoanalytische Theorien der Phantasie führt, als auch die Tricktechniken Hollywoods – wie glass shots und matte paintings – als heimliche Verfahren eben jener Theorie ausweist. Gerade aufgrund dieser doppelten Perspektive erscheint der Text der Jury als besonders wertvoll für die methodischen und theoretischen Herausforderungen der Filmwissenschaft.

Die Präsidentenköpfe von Mount Rushmore in Hitchcocks NORTH BY NORTHWEST, das UNO-Gebäude, das Haus des Bösewichts Philip Vandamm – es sind vermeintlich bekannte Schauplätze, die Johannes Binotto in seinem Text aufsucht. Er zeigt sie uns in neuem Licht. Nämlich mit Blick auf ein filmproduktionelles Detail: Bei allen Ansichten handelt es sich um Malereien, die auf Glasplatten aufgebracht wurden, um störende Elemente im Hintergrund zu überdecken: Schutzbauten des Bildes. Eine Tatsache, die Binotto feinsinnig mit der psychoanalytischen Denkfigur der Phantasie zu verbinden versteht. Die Phantasie kommt dort ins Spiel, wo die Psyche etwas abzudecken vermag und doch nicht – eine Deckerinnerung zum Beispiel. Damit vollzieht der prämierte Beitrag, was er argumentiert, denn auch in Binottos Text kommen zwei Schichten fast vollständig zur Deckung.
Der Text leistet hier zweierlei: Erstens macht er ein methodisches Argument. Er denkt von der Filmproduktion aus und legt ein Nachdenken über das Unbewusste der Filmtechnik nah. Er untersucht technische Verfahren des Films dabei nicht als neutrale Stilmittel der Darstellung, sondern als eigenständige Akteure, welche unabhängig von den Intentionen der Filmemacher in die filmische Narration eingreifen, diese grundlegend umgestalten und problematisieren.
Zweitens macht er einen theoretischen Einsatz und antwortet damit auf ein Desiderat: die Psychoanalyse als lebendiges Feld innerhalb der Filmwissenschaft zu behaupten und nicht als erstarrte Begriffsstifterin aufzufassen. Mit seinen pointierten Close-Readings von Klassikern des Hollywood-Kinos wie CITIZEN KANE und NORTH BY NORTHWEST gelingen Binotto dabei überraschend neue Einsichten – nicht nur in die Produktions- und Gestaltungsweise dieser Filme, sondern auch in die Art und Weise, wie hier über den Einsatz der Filmtechnik Macht und symbolische Ordnungen behauptet werden. In seiner Lektüre dekonstruiert Binotto diese ideologischen Verwebungen und verweist insbesondere auf die unfreiwillig verräterischen Effekte der glass shots, mit denen sich das Repräsentationssystem Hollywood selbst unterläuft und entlarvt.
Dabei geht er keineswegs zögerlich vor, sondern zeigt, wie gerade im Akt des Verdeckens und Zuklebens etwas aufreißt. Dieses vielschichtige Vorgehen macht den Beitrag auch in politischer Hinsicht so wertvoll. Denn wenn es am Ende heißt, das ödipale Gesetz des Vaters halte nicht. „Auch die Väter sind kastriert,“ möchte man Binotto gern glauben. Die Leserin muss sich aber auf den Einwand gefasst machen: Nur weil die Ordnung des Symbolischen hohl und aus den Fugen ist, heißt es nicht, dass sie nicht gefährlich oder wirksam wäre: Auch auf der Jagd nach einem Phantom kommen, so zeigt Binotto, echte Menschen um – geschossen wird trotzdem mit harten Kugeln.
Ein origineller und eloquenter Beitrag, der ideologiekritische Filmanalyse und psychoanalytische Theoriearbeit auf kluge Weise miteinander verbindet.

Johannes Binotto konnte bei der Preisverleihung nicht anwesend sein, sandte aber eine kurze Grußbotschaft per Video

Johannes Binotto konnte bei der Preisverleihung nicht anwesend sein, sandte aber eine kurze Grußbotschaft per Video

2017: Kristina Köhler

Die Jury, bestehend aus Bernhard Groß (Uni Wien), Britta Hartmann (Uni Bonn) und dem Preisträger von 2016, Matthias Wittmann (Uni Basel), hatten 20 Einsendungen zu historischen, ästhetischen, theoretischen Aspekten des Films zu begutachten, elf der vorgeschlagenen Texte waren von Frauen verfasst. Die Kriterien der Auswahl waren die Originalität und Aktualität des wissenschaftlichen Ansatzes und dessen Durchführung ebenso wie die sprachliche Souveränität.

Lobende Erwähnung

Die Jury vergibt in diesem Jahr neben dem Hauptpreis eine lobende Erwähnung. Sie geht (wie bereits 2016) an Tobias Ebbrecht-Hartmann für seinen Aufsatz Goebbels’s Fear and Legacy: Babelsberg and Its Berlin Street as Cinematic Memory Place. Der Text zeichnet die Transformation der filmischen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in gleichermaßen origineller wie bestechend klarer Weise nach – entlang der schillernden Appropriations-Geschichte des berühmtesten Babelsberger Filmsets, der „Berliner Straße“. In raffinierter Konstruktion, Benjamins Konzept des „Spielraums“ produktiv nutzend, gelingt es Ebbrecht-Hartmann, Studio- und Filmgeschichte, Mnemo- und Historiographie aufschlussreich zu konstellieren und den Funktionsweisen des medialen Gedächtnisses neue Aspekte abzugewinnen.

Laudatio für die Preisträgerin Kristina Köhler

Den Karsten-Witte-Preis für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz 2017 erhält Kristina Köhler für ihren Aufsatz »Nicht der Stilfilm also, sondern der Filmstil ist wichtig!« Zu einer Debatte im Weimarer Kino, der 2016 in dem Band Filmstil. Perspektivierungen eines Begriffs erschienen ist und von Julian Blunk, Tina Kaiser, Dietmar Kammerer und Chris Wahl herausgegeben wurde.

Kristina Köhlers Aufsatz fragt nicht einfach regelpoetisch nach Filmstilen im Weimarer Kino, sondern danach, wie sich mit dem Aufkommen, der Verwendung und dem Wandel des Begriffs vom „Filmstil“ in den Kunst- und Bildungsdebatten der 1920er Jahre ein höchst heterogenes Feld der Bestimmung filmischer Formen homogenisiert hat. Es handelt sich also um eine theoriehistorische Studie, die durch die Einbeziehung einer breiten ästhetischen Diskussion im Bereich des Films wie der Bildenden Künste, den, wenn man so will, „Habitus“ des Begriffs herausarbeitet. Köhler fragt: „Wann ist Stil? Unter welchen diskursiven und medialen Bedingungen wird Stil im Film erfahrbar?“

Herausgekommen ist dabei eine luzide, höchst originelle Studie, die präzise und sprachlich so genau wie elegant zunächst die medienreflexive Seite des Verhältnisses von Stil und Film auf Basis der weit verzweigten und ausdifferenzierten kunstgeschichtlichen Stil- und Bildungsdebatten der 1920er Jahre beleuchtet. Von dort aus arbeitet der Text dann die filmtheoretische Wendung dieses medienreflexiven Umgangs in einer der zentralen Filmtheorien der 1920er Jahre, in Béla Balázs Schriften heraus. Damit ist nicht nur ein theoriehistorischer und ästhetischer Zusammenhang hergestellt, sondern auch ein neuer Blick auf die Stildebatten des Films geworfen, die den Paradigmen der historischen Poetik ein neues theoretisches Fundament geben. Eine aktuelle Beschäftigung mit Fragen des filmischen Stils, will sie seriös sein, kommt um die methodische Vorgehensweise Kristina Köhlers, die Diskursivierung des Problems der Theoriebildung, nicht herum.

Preisträger

2016: Matthias Wittmann

Der Karsten-Witte-Preis für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz des Jahres geht an Matthias Wittmann von der Universität Basel für seinen Aufsatz „Krieg und Revolution im Kino des Iran – eine Telescopage“, erschienen in der Zeitschrift Mittelweg 36 des Hamburger Instituts für Sozialforschung (Heft 3, 2015). Der Preis wurde auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaften in Berlin verliehen, Mitglieder der Jury waren Nicholas Baer, Britta Hartmann und Ursula von Keitz.

In der Begründung der Jury heißt es:

Der Publikationsort weist auf Ziel und Selbstverständnis, mit der sich Matthias Wittmann der Aufgabe stellt, eine uns möglicherweise fern scheinende Filmkultur historisch-analytisch zu erschließen und dabei das enge Bedingungsgefüge von Politik und Ästhetik ins Zentrum der Betrachtung zu stellen.

An den Anfang seiner erhellenden Ausführungen stellt der Autor ein auffälliges Motiv: die Notaufnahme des Krankenhauses, den emergency room, dem als Allegorie eines gesellschaftlichen Zustands in literarischen wie filmischen Erzählungen zentraler Stellenwert zukommt. Der emergency room wird zum fokalen Motiv auch des Textes, der das iranische Kino der postrevolutionären Zeit, geprägt vom sogenannten ersten Golfkrieg respektive dem „heiligen Verteidigungskrieg“ (so seine Bezeichnung im Iran), über eine vergleichende Analyse des Kriegsfilms als dominantem filmischen Genre auslotet.

Das iranische sacred defence cinema mit seiner Ausrichtung an der Kerbela-Doktrin und der darin zentralen Märtyrer-Figur als master narrative erweist sich in Wittmanns historisch wie theoretisch informierter und genau nachforschender Befragung als ein zutiefst widersprüchliches Genre. In ihm reiben sich die ikonoklastischen Impulse der islamischen Kultur am Bedürfnis nach neuen Bildern und der Indienstnahme des Films zu kriegspropagandistischen Zwecken, die das Genre erstarken lassen. Ausgerechnet der Kriegsfilm wird zur Ermöglichungsform filmästhetischer Experimente und zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Vergangenheit und Gegenwart unter den Bedingungen einer strikt zensurierten Filmproduktion.

Als eine Telescopage im Sinne von Walter Benjamins Idee einer „Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart“ fasst Matthias Wittmann den Ansatz seiner Untersuchung. Die unauflösliche Verkopplung von „Krieg/Revolution“ wird durch die historische „Rückblende“ zur Revolution von 1978/79 verständlich gemacht und anhand einer vergleichenden Analyse zweier exemplarisch gesetzter Filme verdeutlicht, die beide vom emergency room, von Krieg, Opfer, Verlust und der Suche nach Identität handeln – indes mit höchst unterschiedlichen Implikationen, Mitteln und Effekten, wie Wittmann überzeugend darlegt. […]

Der Aufsatz besticht durch die präzise, sprachlich dichte, instruktive Analyse, mit der Matthias Wittmann tiefensemantische Schichten der exemplarisch herangezogenen Filme pointiert herausarbeitet. Er tut dies mit einer im besten Sinne didaktischen Wendung zum Leser und bringt uns das iranische Kino in seiner changierenden Ästhetik und den darin zum Ausdruck kommenden politischen Implikationen nahe. Der Aufsatz leistet auf vorbildliche Weise eine Einführung in den Gegenstand. Ihm kommt eine kulturvermittelnde und damit politische Funktion in Zeiten nationaler und kultureller Abschottungen zu.

Die Jury spricht darüber hinaus zwei lobende Erwähnungen aus:

Die erste lobende Erwähnung geht an Tobias Ebbrecht-Hartmann für den Aufsatz “Echoes from the Archive. Retrieving and Re-viewing Cinematic Remnants of the Nazi Past”, erschienen im Edinburgh German Yearbook (Vol. 9: Archive and Memory in German Literature and Visual Culture, 2015).

Tobias Ebbrecht-Hartmann beschreibt und analysiert in seinem Aufsatz vergleichend drei Filme, die sich auf unterschiedliche Weise mit Archivmaterial aus der Nazizeit auseinandersetzen und durch ihre Verfahren der cinematischen Intervention im Wahrnehmungsakt je spezifische Beziehungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit schaffen. Seine close readings von Yael Hersonskis A Film Unfinished von 2010, Harun Farockis Aufschub von 2007 und Heynowski/Scheumanns Die Lüge und der Tod von 1988 nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Frage, wie die Filmemacher das historische Footage-Material befragen und rekontextualisieren, um die ihm eingeschriebene Täterperspektive zu hintergehen. […] Neben den präzisen Analysen der drei Filme sind es vor allem auch methodologische Klärungen und die Explikation von Kernfragen, die den Aufsatz in seinem Aufbau und seiner Gedankenführung vorbildlich machen: zu klären, was Filmemacher jeweils veranlasst, die filmischen Archive des Holocausts zu besuchen und zu fragen, wie deren Bestände gelesen und erinnert werden können.

Eine zweite lobende Erwähnung spricht die Jury aus für Guido Kirsten, Roland Barthes und das Kino: Ein Überblick“, erschienen in Montage AV (Vol. 24, Nr. 1, 2015)

Dieser beeindruckende, stilsicher geschriebene und aufschlussreiche Aufsatz behandelt die Rolle des Films in den Schriften Roland Barthes’, von dessen Begeisterung für CinemaScope im Jahr 1954 bis zu seinem berühmten Buch zur Photographie, Die helle Kammer (1980). […] Dabei erläutert Kirsten bedeutende Wechsel in Barthes’ theoretischer Haltung und untersucht die Überschneidungen zwischen seinen verstreuten und zum größten Teil unbekannten Veröffentlichungen zum Film mit seinen kanonischen literatur- und filmtheoretischen Texten. Basierend auf umfangreicher Recherche und genauer Lektüre zeigt Kirstens Überblick eine meisterhafte Kenntnis von Barthes’ Oeuvre und gewährt wertvolle Einsichten in dessen Versuche, eine Semiotik des Kinos zu begründen – Versuche, die das spätere Werk von Christian Metz in mehrererlei Hinsicht vorwegnehmen. Auch wenn Barthes ein zugegebenermaßen „schwieriges“ Verhältnis zum Film hatte und das Medium relativ marginal in seinem Gesamtwerk blieb, beweist Kirsten eindeutig, dass seine Begegnung mit dem Kino nachhaltig und produktiv war.

Karsten Witte-Preis 2016

Von links nach rechts: Matthias Wittmann (Gewinner des KWP), Britta Hartmann (Jury), Guido Kirsten (lobende Erwähnung)

2015: Nicholas Baer

Der Karsten-Witte-Preis für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz des Jahres geht in diesem Jahr an Nicholas Baer von der University of California. Die Jury, der Christine Noll Brinckmann, Ursula von Keitz und Jens Eder angehörten, zeichnete Baer für seinen Beitrag „The Rebirth of a Nation: Cinema, Herzlian Zionism, and Emotion in Jewish History“ aus, der 2014 in dem Leo Beck Institute Year Book erschienen ist. Der Preis wurde auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaften in Bayreuth verliehen.

In der Begründung der Jury heißt es:
Nicholas Bear verknüpft drei Forschungsfelder auf neuartige Weise miteinander: die frühe Filmgeschichte, die Affect Studies und die Geschichte des Zionismus. Dabei setzt der Titel „The Rebirth of a Nation“ David Wark Griffiths umstrittene Filmmythologie der USA in einen spannungsreichen Kontrast zu Theodor Herzls Einsatz für einen jüdischen Nationalstaat.
Nicholas Baer beginnt seinen Text mit einem kühnen Brückenschlag in die Vergangenheit: Ähnlich wie heute haben sich auch vor gut hundert Jahren viele politische Bewegungen zum einen den kollektiven Emotionen, zum anderen den neuen Medien ihrer Zeit zugewandt. Baers davon ausgehende Fragestellung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wie nutzte der Zionismus im frühen 20. Jahrhundert das neue Medium der Kinematographie, um die Zuschauer für sein politisches Ziel zu mobilisieren? […]
Nicholas Baers vielschichtiger, wegweisender Aufsatz widmet sich damit einer gesellschaftlich relevanten Thematik, die bisher kaum erforscht wurde. Auf originelle Weise verknüpft er seine filmhistorische Fragestellung mit filmästhetischen und affekttheoretischen Perspektiven, bringt Geschichte und Gegenwart in Resonanz. Die Kontexte des Fallbeispiels werden vorbildlich rekonstruiert. Sowohl in historiographischer als auch theoretischer Hinsicht ist der Aufsatz von bewundernswertem Kenntnisreichtum und größter Detailgenauigkeit. Die Dokumentation in den Fußnoten lässt das Ausmaß der Recherchearbeit erahnen, die hier zu einer prägnanten Argumentation verdichtet wurde. Nicht zuletzt zeichnet sich der Aufsatz durch große sprachliche Eleganz aus.
(Die Dankesrede des Preisträgers Nicholas Baer finden Sie hier: kwp15_Witte_dank.)

Zudem sprach die Jury zwei lobende Erwähnungen aus:
Eine lobende Erwähnung ging an Guido Kirsten (Stockholm) für den Beitrag „Gleichheitseffekt, Empathie, Reflexion und Begehren. Politiken des Realismus“. Sein klar formulierter Text, der in der Montage/AV veröffentlicht wurde, konturiert zielsicher wichtige Zusammenhänge zwischen realistischer Form und politischer Ästhetik des Films, die bisher zu wenig beachtet wurden. Dadurch verleiht Kirsten nicht nur dem schwierigen Begriff des Realismus größere Prägnanz, sondern macht auch dessen politische Potenziale besser verständlich.

Die zweite lobende Erwähnung erhielt Julia Zutavern (Zürich) für den ebenfalls in der Montage/AV erschienen Beitrag „Politik als Modus der Sinn- und Affektproduktion“. Darin schlägt Zutavern vor, nicht nur von politischen Filmen im Sinne Rancières zu sprechen, sondern darüber hinaus von parapolitischen und metapolitischen, also solchen, die entweder aufgrund ihres Produktionszusammenhangs oder aufgrund ihrer diskursiven Kontexte als politisch aufgefasst werden. Diese Konzepte veranschaulicht sie sehr einleuchtend anhand einer Analyse von Peter Kriegs „fantastischer Reportage“ Das Packeis-Syndrom. Durch ihre erhellende Unterscheidung eröffnet Zutaverns Text ein differenzierteres Verständnis der Grundverhältnisse zwischen Film und Politik.

Von links nach rechts: Jens Eder (Jury), Guido Kirsten (lobende Erwähnung), Nicholas Baer (Gewinner des KWP), Christine Noll Brinckmann (Jury), Julia Zutavern (lobende Erwähung), Ursula von Keitz (Jury)

Von links nach rechts: Jens Eder (Jury), Guido Kirsten (lobende Erwähnung), Nicholas Baer (Gewinner des KWP), Christine Noll Brinckmann (Jury), Julia Zutavern (lobende Erwähung), Ursula von Keitz (Jury)

2014: Chris Tedjasukmana

Ursula von Keitz, Chris Tedjasukmana

Ursula von Keitz, Chris Tedjasukmana

Chris Tedjasukmana, Christine Noll Brinckmann, Jens Eder

Chris Tedjasukmana, Christine Noll Brinckmann, Jens Eder

Chris Tedjasukmana, Christine Noll Brinckmann, Jens Eder_2014

Chris Tedjasukmana, Christine Noll Brinckmann, Jens Eder

Chris Tedjasukmana

Chris Tedjasukmana

Der Karsten-Witte-Preis für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz des Jahres geht in diesem Jahr an Chris Tedjasukmana von der Freien Universität Berlin. Die aus Christine Noll Brinckmann, Ursula von Keitz und Jens Eder bestehende Jury zeichnet Tedjasukmana für seinen Beitrag „Wie schlecht sind die schlechten Gefühle im Kino? Politische Emotionen, negative Affekte und ästhetische Erfahrung“ aus, der in der Zeitschrift Montage/AV erschienen ist. Der Preis wurde auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaften in Marburg verliehen.

In der Begründung der Jury heißt es:
„Chris Tedjasukmana geht von der Beobachtung aus, dass zahllose Filme, ja ganze Genres schlechte Gefühle produzieren. Warum also setzen sich Zuschauer im Kino Gefühlen von Angst, Schrecken, Trauer oder Ekel aus? – Die Hypothese ist, dass Zuschauer im Kino nicht nur schlechte Gefühle empfinden, sondern ‚genuin ästhetische Affekte erfahren, welche mit einem notwendigen Distanzmoment einhergehen’. Dieses Distanzmoment macht sie überhaupt erst zu Filmerfahrungen. Im Kino als Ort öffentlicher Intimität, werden ästhetische Affekte erfahrbar, die als unmittelbare Gefühle unzugänglich oder an-ästhetisch blieben. […] Der Fokus des Aufsatzes erweitert sich zudem auf politische Differenzerfahrungen, indem der Verfasser das entfaltete Spektrum der schlechten Gefühle im Kontext des New Queer Cinema, anhand einer Analyse von  Todd Haynes’ Film Velvet Goldmine (1998) verhandelt.  „Nicht um die kathartische Reinigung der Affekte geht es jedoch,“ so Tedjasukmanas Fazit, „sondern darum, die negativen Affekte auszuhalten, ohne dass wir Gefahr laufen, darüber blind zu werden.“ So kann das Kino uns beibringen, ‚mit den psychischen Verletzungen zu leben ohne sie einfach nur zu beheben.’“

Zudem sprach die Jury zwei lobende Erwähnungen aus. Beide Texte haben, laut Jury, im Gegensatz zu Chris Tedjasukmanas theoretischem Text eine eher filmhistorische Ausrichtung, teilen mit ihm jedoch den Bezug zur Politik und erschließen wie er neue oder vernachlässigte Felder der Filmforschung.

Die erste lobende Erwähnung geht an Daniel Kulle und seinen Aufsatz „DIY Cinema. Alternative Erfahrungsräume des Kinos“, erschienen in der Zeitschrift Augenblick (Themenheft „Erfahrungsraum Kino“). Die Jury schreibt: „Kulle bietet in seinem Aufsatz […] eine dichte, kenntnisreiche Auseinandersetzung mit dem politischen Do-It-Yourself-Film von Subkulturen, der sich durch seine Ästhetik des Selbstgemachten bewusst und kritisch vom kommerziellen Mainstream abwendet und dadurch zur Bildung alternativer Identitäten beiträgt.“
Die zweite lobende Erwähnung geht an Johannes Pause und seinen Aufsatz „Omertà, Trauma, Paranoia“, erschienen in dem von Julia Barbara Köhne herausgegebenen Band Trauma und Film. Inszenierungen eines Nicht-Repräsentierbaren. In der Begründung heißt es: „Johannes Pause widmet seinen Text […] einem Regisseur, der in der deutschsprachigen Filmwissenschaft bisher zu kurz gekommen ist, nämlich Francesco Rosi und seinen Filmen Salvatore Giuliano und Il Caso Enrico Mattei. Auf so präzise wie sensible Weise gelingt es Pause, diese Filme in den Kontext der italienischen Nachkriegskultur einzuordnen und die ästhetischen Strategien ihrer Gesellschafts- und Medienkritik herauszuarbeiten.“
Der in diesem Jahr zum zweiten Mal verliehene Karsten-Witte-Preis wird von der AG Filmwissenschaft ausgeschrieben und ist mit 500 Euro dotiert. Der Preis ist nach dem 1995 verstorbenen Filmwissenschaftler Karsten Witte benannt, in Angedenken an dessen Engagement für die Filmwissenschaft, seine intellektuelle Innovationskraft, sein historisches und ideologisches Bewusstsein und seinen eleganten persönlichen Stil.

Julian Hanich und Chris Wahl (Sprecher AG Filmwissenschaft)

2013: Britta Hartmann

Der Karsten-Witte-Preis für den besten filmwissenschaftlichen Aufsatz des Jahres 2012 geht in diesem Jahr an Britta Hartmann von der Universität Bonn. Die Jury zeichnet Hartmann für ihren Beitrag „Anwesende Abwesenheit. Zur kommunikativen Konstellation des Dokumentarfilms“ aus, der im Aufsatzband Auslassen, Andeuten, Auffüllen. Der Film und die Imagination des Zuschauers (Herausgeber: Julian Hanich und Hans Jürgen Wulff, Paderborn: Fink) erschienen ist.

In der Begründung der Jury heißt es: „Britta Hartmann ist ein Text gelungen, der in Fragestellung und Wahl des Gegenstands ebenso originell wie filmwissenschaftlich relevant ist. Der Dokumentarfilm steht ja, trotz seiner weiten Verbreitung und gesellschaftlichen Bedeutung, noch immer im Schatten des Spielfilms, obwohl er als nicht-fiktionaler Pol des Mediums von hohem Interesse ist. Es lohnt sich, wie der Aufsatz zeigt, die dokumentarischen Strukturen und Strategien theoretisch auszuleuchten, und dies durchaus auch im Vergleich zum Spielfilm. […] In der Verschränkung eines theoretischen Ansatzes mit einer präzisen Analyse kommt die Theorie bei Hartmann sozusagen auf leisen Sohlen daher; sie wird am Beispiel fassbar, ohne an Trennschärfe zu verlieren. […] Der Aufsatz ist knapp, mit Blick auf das Wesentliche und ohne Redundanz formuliert, von schönem Fluss und stets auf leserfreundliche Verständlichkeit bedacht.“

Der in diesem Jahr zum ersten Mal verliehene Karsten-Witte-Preis wird von der AG Filmwissenschaft ausgeschrieben und ist mit 500 Euro dotiert. Das Preisgeld wird zu gleichen Anteilen vom AVINUS e.V. und einem anonymen Spender gestiftet. Der Preis ist nach dem 1995 verstorbenen Filmwissenschaftler Karsten Witte benannt, in Angedenken an dessen Engagement für die Filmwissenschaft, seine intellektuelle Innovationskraft, sein historisches und ideologisches Bewusstsein und seinen eleganten persönlichen Stil. Der Jury gehörten Christine Brinckmann (Emerita, Universität Zürich), Ursula von Keitz (Universität Konstanz) und Jens Eder (Universität Mannheim) an.

Im Abstract des Aufsatzes von Britta Hartmann heißt es: „Die Vorgänge des Auslassens und Auffüllens, des Evozierens und Imaginierens stellen sich im dokumentarischen Film anders dar als im fiktionalen und müssen daher spezifisch gefasst werden. Mir geht es in diesem Beitrag um eine besondere, dem Dokumentarfilm eigene Leerstelle, auf die sich Aufmerksamkeit und Vorstellungsvermögen, mithin die imaginativ-auffüllende Tätigkeit des Zuschauers richtet: die Leerstelle der unsichtbaren, weil in der Regel im Bild abwesenden Filmemacher. Diese ‚anwesende Abwesenheit‘ ist Teil der sozialen Situation, die durch die Filmarbeit entsteht. Die sozialen Akteure im performativen Raum vor der Kamera interagieren auf verschiedene Art und Weise mit dem unsichtbaren Team dahinter, zugespitzt formuliert: Die Interaktion von Gefilmten und Filmemachern ist notwendiger Bestandteil der kommunikativen Verfasstheit des Dokumentarfilms; das gilt sogar für beobachtende Ansätze, auch wenn deren Vertreter das vermeintliche Ideal vom Nichteingreifen in die profilmische Situation postulieren. Nicht zuletzt aus diesen Zeichen der Interaktion gewinnt der Zuschauer in der Rezeption eine Vorstellung der Filmemacher im Off-Screen-Raum. Deutlich wird, dass sich in der dokumentarfilmischen Konstellation unterschiedliche soziale und kommunikative Rollen überlagern. Dies wird insbesondere an SCHOTTER WIE HEU dargelegt, einem Film, der daraus komische Effekte zieht.“

Zudem sprach die Jury zwei lobende Erwähnungen aus, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Eine lobende Erwähnung geht Judith Ellenbürger (geborene Wimmer): „Der Rhythmus des Geldes. Eine Neusichtung von Antonionis L’ECLISSE mit Georg Simmel“, erschienen in Jörg Glasenapp (Hg.): Michelangelo Antonioni. Wege in die filmische Moderne (Paderborn 2012). Begründung der Jury: „Die Autorin nimmt Simmels Geldtheorie als heuristisches Instrument, um eine innovative und einleuchtende Lektüre des Films vorzulegen, bei der Thematisches und filmische Gestaltung sich in der Analyse verschränken.“

Die zweite lobende Erwähnung geht an Oliver Schmidt: „Diegetische Räume. Überlegungen zur Ontologie filmischer Welten am Beispiel ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (2004) und INCEPTION (2010)“, erschienen in Regine Prange, Henning Engelke und Michael Fischer (Hg.): Film als Raumkunst. Historische Perspektiven und aktuelle Methoden (Marburg: Schüren 2012). Begründung der Jury: „Der Autor arbeitet eine spezifisch filmische Raumpräsentation heraus, die sich von der literarischen Raumpräsentation unterscheidet. Er entwickelt eine vielgestaltige, weithin verwendbare Typologie und führt sie an unterschiedlichen Beispielen vor.“

Julian Hanich und Chris Wahl (Sprecher AG Filmwissenschaft)

Log-In
Kontakt
Impressum